"Sie versteht es nicht" verstehe ich
Hola liebe Menschen,
nun kann ich endlich meinen ersten Eintrag verfassen. Und wie sollte es anders sein? Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll, denn die Tage sind bisweilen gefüllt von tausend neuen Eindrücken! Also einfach mal der Reihe nach.
Meine Hinreise verlief ohne Probleme. Hatte ich vorher schon öfters gehört, dass das Gepäck gerne mal ein paar Tage später eintrudelt, durfte ich meinen Rucksack ein Glück sofort mitnehmen. Am Flughafen in Cochabamba wurde ich dann herzlichst begrüßt. Hermana Mici und ein paar Mädchen holten mich mit Luftballons und Blümchen und einem großen Schriftbanner ab, was ein wirklich schöner Start in dieses kleine Abenteuer war. Im Hogar angekommen überkam mich dann die große Müdigkeit und nach einem kurzen Kennenlernen der Hermanas und einigen Kindern legte ich mich erstmal etwas hin. So viel Neues aufeinmal. Zum Glück hatte und habe ich keine Probleme mit der Luft hier in Bolivien, so dass mir Kopfschmerzen erspart blieben. Gleich am ersten Tag bin ich dann noch mit zwei Mädchen in die Stadt gefahren, um etwas Geld umzutauschen und eine neue Simkarte mit Internetzugang zu kaufen. Da konnte ich dann auch schon etwas Cochabamba-Luft schnuppern. Auf dem Rückweg saßen wir in einem kleinen, stickigen Bus. Begleitet wurde die holprige Fahrt über Sandstrassen von der Musik der Backstreetboys und ich realisierte zum ersten Mal, dass ich nun ganz schön weit weg von Zuhause bin: Hallo Bolivien!
Die nächsten Tage waren gefüllt vom Kennenlernen der Mädchen, der Strukturen und Abläufe hier im Hogar San Francisco. Ich war und bin immer wieder überwältigt von all der Liebe und Zuneigung, die mir die Mädels hier so schnell entgegenbringen. Mein Tagebuch platzt quasi schon von kleinen Liebesbriefen. Die positive Einstellung der Kinder mir gegenüber hat mich auch förmlich durch die ersten Tage getragen, bin ich doch immer wieder an meine Grenzen gekommen, da ich sie und die Nonnen ja kaum verstehe. Es ist schon ein mutiges Unterfangen, mit Menschen zu arbeiten, deren Sprache man nicht teilt – das merke ich immer mehr. Aber zum Glück auch, dass sehr Vieles wirklich ohne Sprache geht! Kuscheln, Haare flechten, Springseilspringen, lachen, tanzen – klingt so kitschigschön, aber genauso ist es hier. Und was auch fantastisch funktioniert, sind die Hennasessions. Die Mädels fahren total darauf ab und nun höre ich eigentlich jeden Tag mindestens einmal die Frage, wann ich sie wieder anmalen kann. Das sind für mich auch immer sehr erholende Momente, da für kurze Zeit alles ganz ruhig ist und ich mich von den ganzen Fragen auf spanisch erholen kann. Den Satz, den ich hier aber wirklich immer verstehe, ist, dass sie sagen, dass ich nicht verstehe. Welch Ironie.
Die erste Woche verlief so, dass ich mit den Mädchen um 6 Uhr aufstand. Ich wollte sie immer vor den Nonnen wecken, aber dafür muss ich wohl noch schneller sein. Plan für die nächste Woche! Danach half ich, die Mädchen für die Schule fertig zu machen: Haare kämmen, Jacken ordentlich zuknöpfen und und und. Um 7 Uhr stand dann die erste Mädchengruppe vorm Tor und sprach ihr Gebet, bevor es in die Schule ging. Die zweite Mannschaft folgte um 7:45. Anschliessend zog ich mich für eine kurze Weile zurück, um etwas zu frühstücken und überhaupt erstmal richtig wach zu werden. Und hatte ich schon erwähnt, wie kalt es morgens hier sein kann? Brrr. Gut, dass es morgens Tee oder warmen Kakao gibt. Ein oder zwei Wochen kann ich die weissen Brötchen vielleicht noch sehen, danach muss ich mich unbedingt mal auf die Suche nach Joghurt oder Cornflakes machen. Ansonsten kann ich wohl nie wieder helle Brötchen essen.
Bei der Hausaufgabenbetreuung habe ich mich bislang vor allem um die kleine Camila (5) gekümmert, bei den anderen Mädchen kann ich wegen der Sprache leider noch nicht so viel unterstützen, wie ich gern würde. Camila bekam von mir jeden Tag neue Aufgaben, sie soll vor allem Buchstaben und Zahlen lernen. Ich habe jetzt schon gelernt, dass sie Mathe echt klasse findet, bei Buchstaben dann aber zum kleinen Trotzkopf wird. Da passiert es schonmal, dass sie 20 Minuten mürrisch auf ihr Blatt Papier starrt. Naja, ich habe ja Geduld. Am Mittwoch hatte ich dann das Gefühl, dass einfach alle unglaublich müde waren (inklusive mir) und so kam es, dass die Kleine beim Lernen fast einschlief. Das konnte ich nicht mit ansehen, also nahm ich sie auf den Schoss und ich glaube es waren 10 Sekunden, da hatte ich ein schlafendes Kind auf dem Arm. Ich hatte zum Glück ein Buch dabei und so schlief sie bestimmt 30 Minuten weiter und ich habe einfach mal ein bisschen gelesen.
Unter der Woche durfte ich nun auch schon zweimal die Chicas zum Ballett begleitet. Bei Martha und Mici wurde mir sogar erlaubt, bei der Stunde zuzuschauen. Das war so freundlich und ein kleines Highlight bislang. Die zwei Mädchen schauten immer wieder ganz stolz zu mir und ich mindestens genauso stolz zurück. Wächst da etwa sowas wie ein kleines Mutterherz?
Ein weiterer Höhepunkt unter der Woche war der Feiertag in Cochabamba am Donnerstag. Weil ich hier ja kaum etwas verstehe, kam es ganz plötzlich und spontan, dass ich mit Judith im Bus sass, um einige Mädchen in ihren Schulen zu besuchen. Dort wurde überall die Nationalhymne geträllert, es folgten traditionelle bolivianische Tänze und überall gab es nationaltypisches Essen. Eigentlich war das alles furchtbar aufregend und spannend, aber ich war auch total erschlagen von diesen neuen Eindrücken, die mir dann doch sehr fremd waren, dass ich schlussendlich sehr erschöpft nach Hause kam. Am Freitag hatten die Mädchen dann alle schulfrei und wir hatten einen im Vergleich zum normalen Tagesablauf wirklich entspannten Tag. Nach und nach kamen alle nach draußen und wir frühstückten im Garten. Ich mag das Bild, wenn alle Chicas zusammenkommen und essen. Bislang bekomme ich mindestens eine doppelt so große Portion beim Essen wie die Mädchen, was wirklich unglaublich lieb gemeint ist, ich aber nach und nach kommunizieren muss, dass ich das gar nicht brauche. Generell wollen sie mir immer sofort den Besen oder den Lappen aus der Hand nehmen, dabei möchte ich unbedingt ganz viel mit anpacken.
Ich finde es so beeindruckend, wie sehr hier alle mithelfen und ihre Aufgaben so unglaublich diszipliniert erledigen. Schmunzeln muss ich dann aber schon, wenn nach dem Abendessen überall Knochen und Suppenreste, Papier und Bananenschalen rumfliegen. Jeden Tag so ausführlich zu putzen, hat also doch seinen Sinn! Dass sich die Chicas schon in jüngsten Jahren unfassbar gehorsam verhalten, ist mir vor allem am Sonntag bei meiner ersten Messe aufgefallen. Die Kleinste (2) fing plötzlich bitterlich an zu weinen, anstatt, dass sie aber laut losschrie, hielt sie sich die Hand vor den Mund, um dann ganz schnell mit Elena nach draussen zu gehen.
Nun aber wieder zur ersten Woche. Freitag stand hier auch das große Haarewaschen der jüngeren Mädchen an. Dafür wurden draußen mehrere Eimer voll Wasser (kalt, wohlgemerkt) gefüllt und ein Mädchen nach dem anderen tauchte ihre Haare darin ein. Danach schäumten wir Großen die Haare von allen ein und alles wurde mit dem gleichen Wasser wieder ausgewaschen. Anschließend bekam jede noch ein Mittel gegen Flöhe einmassiert, was dann einige Minuten einwirken musste. Auch hier war ich wieder so beeindruckt von dem Zusammenhalt der Mädels untereinander. Es ist ganz klar, dass die Älteren den Jüngeren helfen!
Am Samstag bin ich dann mit fünf Mädchen und wieder in Begleitung von Judith auf den Markt in Cochabamba gefahren, wo sie sich alle für je 20 Euro Klamotten und anderes kaufen durften. Meine Güte war das voll dort! So eine Fülle von Gerüchen, Menschen, Stimmen und Ständen habe ich glaub ich noch nie erlebt. Die Mädels gingen zum Glück ganz zielgerichtet zu den Ständen, um in erster Linie neue Schuhe und Hosen zu holen. Eigentlich wollte ich auch noch nach kleinen Taschen gucken, aber das war mir tatsächlich viel zu voll! Im Gänsemarsch und Hand und Hand schlengelten wir uns durch die Massen und nach zwei Stunden war das Powershoppen vorbei und wir fuhren mit glücklichen Mädchen wieder ins Heim.
Gestern nach der Messe machte ich mich mit 15 älteren Mädels auf, die Christusstatue zu besuchen. Da ich sie anscheinend mal wieder nicht richtig verstand, war es schlussendlich meine Schuld, dass wir alle diese endlosen Stufen in der krassen Hitze hochstiefelten, anstatt die Gondeln zu nehmen. Beim Aufstieg schwiegen irgendwann alle nur noch, denn es war wirklich unfassbar anstrengend. Als kleine Strafe habe ich mir einen Sonnenbrand im Gesicht geholt, tja, so kann es kommen. Ein bisschen lachen musste ich dann aber schon immer wieder, als ich so in die vezweifelten Gesichter aller schaute, sie mir aber immer noch ein Lächeln entgegenbrachten. Wie lieb, dass sie diesen Marsch mit mir gemeinsam bestritten. Und der Ausblick hat sich allemal gelohnt. Was für eine wunderschöne Landschaft hier! Zurück bezahlte ich dann aber von meinem eigenen Geld die Busfahrt zum Heim und kein Mädchen kam noch auf die Idee, das Angebot abzulehnen. Ja, wir waren wirklich richtig fertig. Nächste Woche dann das Gleiche nochmal mit den jüngeren Chicas. Dafür kann ich mich wenigstens besser wappnen. Am Donnerstag werde ich hier für alle Pizza backen, das wird was. Wie sich das gestaltet hat und was sich hier sonst noch so ereignete, folgt im nächsten Bericht.
Chao und hasta pronto!
Eure Jule