Das Zeitgefühl benimmt sich wie ein Rennpferd
Buenas tardes!
Was ging die letzte Woche doch schnell um, wie im Fluge sozusagen. Ob dies nun mein letzter Bericht sein wird, den ich aus dem Hogar schreiben werde? Am Samstag geht es nämlich schon weiter nach La Paz, dieses Mal ohne Rückkehr. So langsam kommt hier bereits Abschiedsstimmung auf. Bei dem Gedanken, sie Samstag für eine wahrscheinlich längere Zeit zu verabschieden (denn natürlich will ich wiederkommen!), werde ich richtig traurig und auch viele Mädchen sind in den letzten Tagen besonders kuschelig und nehmen sich vor, mich irgendwo anzubinden, damit ich doch nicht wegfahren kann. Da bin ich ja mal gespannt auf Samstag, ob ich überhaupt zurückkomme, wenn ich doch hier festgekettet bin?
Die vergangene Woche war eine der trubeligsten, seit dem ich hier bin. Leider nicht nur im positiven Sinne. Was passiert ist? Am Donnerstag fuhr ich bereits um 7 Uhr morgens mit Hermana Lucia zur Migrationsbehörde, denn meine ersten 30 Tage des Visums neigten sich dem Ende zu, so dass das Visum verlängert werden musste. Und wie es Behörden und Ämter so an sich haben, verlief es selbstverständlich nicht einfach. Ganz im Gegenteil: der extrem unfreundliche und absolut nicht hilfsbereite Mann meinte aufgrund der Adresse des Heimes könne ich nicht nur zu touristischen Zwecken in Bolivien sein.
Er zielte darauf ab, dass ich ein Praktikumsvisum kaufen solle. Hermana Lucia und ich fuhren zunächst wieder zurück. Sie sagte, mit einem unterschriebenen Beleg von Hermana Mici können wir sicherlich nachweisen, dass ich hier “nur” zu Besuch wäre. Der ganze Aufwand natürlich nur, damit ich keine 50 € zahlen müsse! Ein paar Stunden später ging es dann mit Hermana Mici zunächst zum Flughafen, sie wollte sich dort am Einreiseschalter nach dem richtigen Verfahren erkundigen. Der Mann bestätigte unsere Verwunderung über die angebliche Problematik, dürfte ich aus Deutschland normalerweise ohne Probleme bis zu 90 Tagen in Bolivien bleiben. Es ging gleich im Anschluss wieder zur Behörde. Aber auch mit Nachweisen meines Besuches wollte sich der Mann nicht bequatschen lassen. Am Ende ließ er dann immerhin erahnen, dass es noch ein Visum zu religiösen Zwecken gäbe, welches nichts kosten würde. Er informierte Hermana Mici über alle nötigen Unterlagen, während ich schweigsam aber tatsächlich fast alles verstehend daneben saß und bei mittlerweile 39 Grad Fieber angekommen war, wie sich im Nachhinein herausstellte. Ich war total überfordert, müde und erkältet und das Einzige, was ich an diesem Tag noch tun wollte, war schlafen, schlafen und nochmal schlafen. Ab 16 Uhr lag ich dann endlich im Bett, welches ich nur noch kurz für die Abendsuppe verließ. Am nächsten Tag mussten Hermana Mici und ich ein weiteres Mal los und wir hofften nun inständig, dass endlich alles funktionieren würde. Der Freitag war nämlich der 30. Tag meines Aufenthaltes, dementsprechend brauchte ich das Visum gang, ganz dringend. Dieses Mal sollten wir wohl Glück haben, jedenfalls nickten sie alle eingereichten Unterlagen ab. Am 10.10. wird sich dann schlussendlich zeigen, ob ich weiterhin legal unterwegs sein darf, denn dann können wir meinen Pass wieder abholen.
So richtig zur Ruhe kommen sollte ich diese Woche tatsächlich nicht. Am Freitagabend ging es mit den älteren Mädchen in den Parque de la familia. Es war bereits dunkel, wir hatten alle zu Abend gegessen. Ca. 15 Mädchen inklusive mir wurden mit dem Jeep von Hermana Mici gefahren, die anderen fuhren mit einem Taxi hinterher. Alle waren ganz aufgeregt! So viele Mädchen zu transportieren, war eine kleine Herausforderung. Die Hälfte saß auf der offenen Ladefläche, weshalb Hermana Mici ganz vorsichtig und langsam fahren musste. Ein ständiges Gekicher begleitete dann die Fahrt, bis wir da waren. Lustiger Zusatz: Hermana Mici sagt mir fast jedesmal bei einer Autofahrt, ich solle kurz mal wegschauen, wenn sie über eine rote Ampel fährt. Das ist zu dem restlichen Straßenchaos ja noch harmlos. Wenn ich mir so den restlichen Verkehr hier anschaue, bin ich immer wieder beeindruckt, dass ich noch keinen Unfall miterlebt habe! Im Park angekommen, leiteten die Mädels mich an, wo es zuerst hingehen solle. Überall gab es Wasserfontänen mit Musik und Licht untermalt. Und scheinbar gehörte es dazu, sich in die Fontänen zu stellen und fotografieren zu lassen. Ein Glück war ich noch erkältet und hatte damit eine super Ausrede, da nicht mitmachen zu müssen. Es war abends und bereits ziemlich kalt. Aber fotografiert habe ich dafür fleißig! Wir hatten alle viel Spaß und schauten uns am Ende noch die letzte Show an. Die bestand aus einer Lichter-Wasser-Performance, auf die kleine Filme über Cochabamba projeziert wurden, natürlich untermalt mit Liedern rund um die Stadt. Ich habe dabei nochmal gemerkt, wie sehr ich hier bereits angekommen bin und wurde für kurze Zeit etwas melancholisch, musste ich an das baldige Ende hier denken. Schlussendlich ging es wie auf der Hinfahrt zurück und ich war das erste Mal, seit ich im Hogar San Francicso bin, später als 22 Uhr im Bett!
Am Samstag stand dann, nach einem dritten Marktbesuch mit ein paar Chicas, gleich der nächste Parkbesuch an. Nun waren die Kleinen an der Reihe und wir fuhren in den Parque de Dinosaurios. Ein Spielpark mit großen Dinosaurierfiguren, in denen die Kinder rutschen und klettern konnten. Auch ein Bereich mit Fischen in Aquarien war vorhanden, so dass es genug zum Staunen und Spielen gab. Beim Anblick der armen Fische wurde mir dann doch etwas anders und ich verneinte das erste Mal, ein Foto zu machen. Die Mädchen hatten besonders auf den Rutschen einen grossen Spaß. Und man kennt es ja selber nicht anders; sie waren irgendwann so aufgedreht, dass sich eine Kleine etwas verletzte, weinte und ich den Schlussstrich ziehen musste. Noch kurz etwas aus den Brunnen trinken und die roten Köpfe abkühlen lassen, wurden wir schließlich wieder von Hermana Mici eingesammelt, die für alle einen Saft bereit hielt. Danach ging es sofort weiter zur Kirche. Am Donnerstag hatte das Heim nämlich Geburtstag, für den nun eine eigene Messe gehalten wurde! Der Sonntag hingegen war dann sehr ruhig. Es gewitterte und regnete das erste Mal, seit ich hier bin. Alle machten es sich in den Häusern bequem und spielten Monopoly, Uno oder andere Gesellschaftsspiele. Ich genoss die Ruhe, spielte etwas mit und nutzte gleichzeitig die Zeit, meine letzten Tage etwas zu planen und mich auszuruhen – endlich!
Was es sonst noch zu berichten gäbe? Die Mädchen haben herausgefunden, wie gut ich zu erschrecken bin. Jetzt darf ich jeden Tag bestimmt dreimal quasi in die Luft springen. Und so langsam hege ich den Verdacht, sie wollen mich hier mästen. Ich höre andauern, ich wäre viel zu dünn und schwupps wird mir eine zusätzliche Portion auf den Teller getan! Oh, und ganz wichtig – wir haben nun Papageienbabys. Macho und Embra bekam Hermana Mici zu ihrem Geburtstag. Seitdem werden die zwei von den Mädchen überall hingetragen, stets auf der Hut vor Bonca, der Katzendame des Hauses. Die zwei sind noch ganz zerzaust und wirklich super niedlich.
Meine letzten Tage im Heim sind nun gezählt. Bis dahin muss noch ein Berg an Wäsche gewaschen, Weihnachtskarten der Mädchen für die Paten übersetzt und überhaupt gepackt werden. Die letzten Male zum Ballett mitfahren stehen an und am Freitag möchte ich als Abschied für alle Eis ausgeben.Der nächste Bericht wird also höchstwahrscheinlich bereits aus La Paz kommen.
Bis dahin: allerliebste Grüße nach Deutschland. Ich sende Sonne und warme Gedanken!
Eure Jule