Zwei Monate in Bolivien: Ein Abschlussbericht
Nun sind bereits mehr als zwei Wochen vergangen, dass ich wieder auf deutschem Boden landete. Dabei gibt es doch noch so einiges zu berichten, was mir in meiner letzten Woche in La Paz so alles begegnete und überhaupt ist so ein allgemeiner Rückblick auf meine zwei Monate in Bolivien als ein Abschluss meiner Berichte ja auch was Feines. Also los gehts!
Genau eine Woche vor meinem Abflug durfte ich Norah zu ihrem Seminar in der Universität von La Paz begleiten. Es war ein schöner Tag für einen Besuch, begann genau an diesem Datum auch mein Semester in Hildesheim. Ich ging also zur Uni – nur eben nicht an meine. Wir fuhren mit den Gondeln hoch hinaus ins El Alto Viertel. Hier wehte bereits ein kalter Wind und die Wolken sahen bedrohlich dunkel aus. Ich war beinahe erschlagen von der Größe des Campus. Auch hier reihte sich ein Stand mit Süßigkeiten und Getränken nach dem anderen, so wie sie überall in der Stadt verteilt sind. Auf dem Weg in das Gebäude für die soziale Arbeit stiegen wir förmlich über kleine Müllberge. Norah erklärte mir, die Universität hätte kein Geld, so dass die Putzkräfte nicht mehr bezahlt werden können und diese nun schon seit einigen Wochen streiken würden. In ihrem Gebäude angekommen lobte sie dafür umso mehr ihre Studierenden, die alle im Wechsel die Reinigung übernahmen. Und es stimmte, im Haus war es sauber und ordentlich. Wir mussten nun nach ganz oben und da die Luft hier auf dem Berg doch sehr dünn ist, war es ein furchtbar anstrengender Aufstieg für mich. Auf dem Weg ins Seminar stellte Norah mich einigen Dozierenden vor, die allesamt mit mir englisch sprachen und mir mit großen Interesse entgegen traten. Obwohl ich fremd für sie war und sie ebenso für mich gab es auch hier ein Kuss auf die Wange zur Begrüßung. Ich mag diese Form der Begrüßung so sehr, begegnet man sich auf einer viel persönlicheren und gleichwertigen Ebene. Im Seminarraum angekommen, nahm ich neben einigen anderen Studierenden Platz und fühlte mich tatsächlich etwas in meine bekannte Umgebung versetzt – auch wenn eigentlich alles anders aussah. Es trudelten nach und nach immer mehr Leute ein, was sich so tatsächlich bis zum Ende der Veranstaltung durchziehen sollte. Ich konnte nicht anders, als stark verwundert über die Lässigkeit von Norah zu sein, die das Zuspätkommen scheinbar nicht im Geringsten störte. Bevor die Studierenden für 15 Minuten Plakate gestalten sollten, bat mich Norah, dass ich mich vor dem Kurs vorstellen möge. Zum Glück sprachen alle englisch, so dass ich etwas mehr erzählen konnte. Nach der kleinen Prüfung durch das Vorstellen der Partnerarbeit wurde gemeinsam Essen zubereitet – es gab Hähnchen und Weißbrot mit Ketchup und viel, viel Remoulade. Nicht so sehr mein Geschmack, nahm ich mir aus Höflichkeit ein Brot und setzte mich zu den anderen in den Kreis. Was für eine nette Idee, in der Uni gemeinsam zu Abendbrot zu essen! Mich schockte jedoch auch hier der „Machismus“, wollte im Laufe der Veranstaltung ein junger Mann einen weiteren Kaffee trinken. Es musste eine Studentin aufstehen, um ihm nachzugießen, was mich innerlich ganz furchtbar fuchsig machte. Am Ende des Seminars bat mich Norah, nochmals etwas an die Studierenden zu richten. Was war noch zu sagen? Ich bedankte mich, dass ich dabei sein durfte und wünschte ihnen viel Erfolg für das Semester. Danach ging es mit den Gondeln den Weg zurück – insgesamt waren wir mehr als eine Stunde unterwegs und es regnete nun in Strömen. Wie schön, als wir ins trockene Haus ankamen und es den allabendlichen Tee gab.
Ein großes Highlight meiner letzten Woche war dann noch der Samstag vor meinem Abflug. Es stand ein weiteres Pizzabacken an und ebenso meine Tanzstunde für die jungen Leute im Senda. Es ging bereits um 9 Uhr morgens los, indem Norah mich in die Küche des Sendas brachte und einige andere dazu kamen. Wo waren meine Nonnen, die mich so sehr an die Hand nahmen beim letzten Mal? Ich vermisste die Unterstützung, aber nach einem kurzen Sammeln konnte ich die anderen nach und nach anleiten und schließlich lief es wie von selbst und wir hatten einen großen Spaß. Es wurde geknetet und geschnippelt. Dabei lief meine Musik und ich fühlte mich plötzlich so sehr zu Hause. Nachdem alles vorbereitet war, verschwand ich für kurze Zeit mit Fabricio zum Supermarkt, weil ich doch unbedingt für Norah und die anderen Erwachsenen vom Senda wenigstens eine Schokolade als Dankeschön für all ihre Gastfreundschaft kaufen wollte. Der Plan ging auf; niemand bekam unser Verschwinden mit und kurz darauf ging es daran, die Pizzen zu belegen und dann ab in den Ofen. Es gab eine große Tischtafel, an der wir schlussendlich alle die leckere Pizza gemeinsam genossen. Es war geschafft und allen schmeckte es!
Nun stand noch die Contemporary-Stunde aus, vor der ich sehr nervös war, hatte ich doch noch nie eine Tanzstunde für andere ganz alleine gegeben. Einen Abend zuvor konnte ich mir bei Norah einige Choreographien und die passende Musik zusammenstellen, so dass ich immerhin gut vorbereitet anfangen konnte. Und zunächst war das ganze Wohnzimmer voller Menschen, die mir versuchten, zu folgen. Nach und nach kristallisierte sich dann ein harter Kern heraus, mit dem ich schließlich an einer meiner Choreographien gemeinsam weiterarbeitete. Es war so spaßig und anstrengend zugleich! Am kommenden Tag sollte ich den Muskelkater meines Lebens haben. Abends, beim gemeinsamen Suppe-Essen auf dem Boden, überreichte mir Karina eine große, selbstgebastelte Karte aller aus dem Senda mit kleinen Widmungen und Zeichnungen. Wie lieb! Ich war auch hier so sehr gerührt von ihrer Dankbarkeit, die ich ja ebenso für sie alle empfand. Wir machten Fotos und dann hieß es, sich von einigen bereits zu verabschieden. Ich konnte an diesem Abend den Gedanken daran, sie alle lange nicht mehr wiederzusehen, zum Glück etwas ignorieren und war dafür umso glücklicher, einen so schönen Tag mit fast allen noch einmal gehabt zu haben. Norah kam spät abends wieder von einem großen Einkauf; sie hatte neue Computer und Kopierer für das Senda besorgt, die schließlich mit einem Gruppenfoto für die Spender festgehalten wurden. Nach einem langen, bunten und sehr tanzreichen Tag ging es schließlich ins Bett. Am nächsten Tag, meinem letzten Sonntag hier in Bolivien, wurde aber keinesfalls ans Ausschlafen gedacht. Gemeinsam mit Karina fuhr ich früh morgens mit einem Bus zum Titicacasee, wo wir zunächst ein Museum zur Geschichte der dort angesiedelten Völker besuchten und anschließend auf ein Boot stiegen, mit dem wir mehrere Stunden über den See tuckerten. Die Sonne kam heraus und ich verbrachte viel Zeit an Deck und ließ die Landschaft an mir vorbeiziehen. Die Berge, die Weiten des Wassers, hier und da ein paar Kühe auf Feldern, Stille. Von drinnen dröhnte die Musik zu mir durch, zu der die Omas an Bord ohne Ende feierten und tanzten. Was für ein Kontrast! So kam es also, dass ich meinen letzten Tag in Bolivien mit feierwütigen alten Damen und einer Menge frischer Luft verbrachte. Erst spät am Abend kamen wir zurück und nun ging es ans Packen. Ich hatte zum Glück einiges an Shampoos, Cremes und so weiter leer machen können, so dass ich es nach einigen Versuchen, stetigem Drehen und Wenden, tatsächlich schaffte, die vielen, vielen Karten in den Rucksack zu bekommen. Ich konnte nun also erfolgreich die Rolle der Weihnachtspost-Fee übernehmen. Erleichtert konnten Norah und ich nun schlafen gehen. Die letzte Nacht stand bevor. Am Montag den 29.10. hieß es nun tatsächlich Abschied zu nehmen. Norah kochte zu Mittag einen großen Topf Nudeln mit Tomatensoße und wir aßen ein letztes Mal gemeinsam mit allen im Wohnzimmer. Dann mussten Wara und ich uns auf Wiedersehen sagen. Es war traurig, alles andere wäre gelogen. Sie weinte ganz bitterlich und als ich sie so im Arm hielt, kullerten mir auch die Tränen hinunter. Trotzdem erfüllte mich dieser Abschiedsschmerz, denn wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen und haben uns sehr ins Herz geschlossen. Was will man noch mehr nach dieser Zeit? Bevor es schließlich zum Flughafen ging, fuhren wir ein letztes Mal zum Senda, damit ich mich von allen, die dort waren, verabschieden konnte. Ich überreichte Senora Norberta die Schokolade und die dicke Jacke, die sie mir lieberweise für meine Zeit in La Paz auslieh. Und dann ging es los, die Berge hinauf, durch Staus und hupende Autos, bis wir am Flughafen ankamen. Bevor ich tatsächlich einchecken würde, tranken Norah und ich noch eine heiße Schokolade und ich konnte mir noch etwas Kaugummi und Kekse kaufen, denn ein bisschen Geld war noch übrig. Ich hatte das Gefühl, wir versuchten beide den Abschied so lang es ging, hinauszuschieben. Aber irgendwann standen wir dann doch vor dem Check-In-Schalter und nun folgte eine lange, lange Umarmung, Küsse links und rechts. Und dann stand ich alleine vor meinem Gate. Ich fühlte mich so komisch, war ich zwei Monate ständig von Menschen umgehen. Und nun war ich allein. Und es hieß, nach Hause zu fliegen. Chao Bolivia, es war mir eine große Ehre, hier sein zu dürfen und all die Herzensmenschen und ihr Leben etwas kennenzulernen.
Was lässt sich also rückblickend noch festhalten? Ich spüre immer noch eine tiefe, tiefe Demut, wie viel Liebe mir entgegengebracht wurde. Ich habe es geschafft, offen und interessiert den Menschen entgegenzutreten und habe auf diese Weise denselben Respekt und viel Zuneigung geschenkt bekommen. Ich habe noch nie in zwei Monaten so viel getanzt und gefeiert. Und ich habe noch nie so viel Weißbrot am Stück gegessen und so viele Menschen so viel Zucker konsumieren sehen (eine Teetasse = 5 Löffel Zucker). Ich habe, wenn auch oberflächlich, viel Armut gesehen, Menschen, denen man ihr hartes Leben sofort ansah, die in für mich unvorstellbaren Lebensverhältnissen hausen, ohne Wasser und Strom. Und dann konnte ich trotzdem immer wieder so viele Ähnlichkeiten im Zwischenmenschlichen entdecken, Sorgen, Themen, die uns Menschen in Deutschland genauso beschäftigen. Die Chicas stritten sich darüber, wer nebeneinander sitzen sollte und waren sauer, wenn jemand mehr Süßigkeiten bekam. Die Kleinen weinten, wenn das Duschwasser zu kalt war und wenn sie so müde waren, dass sie kaum noch stehen konnten. Sie waren auch mal genervt von ihren Hausaufgaben und wollten eigentlich lieber spielen. Dennoch wachsen sie in einer sehr viel disziplinierteren Umgebung auf, was allein schon an ihrer Schrift und ihren unfassbar ordentlich geführten Schulheften erkennbar wird.
Viele Kinder waren sehr sensibel im Umgang mit meinen Sprachschwierigkeiten und entwickelten beinah kleine Wettkämpfe daraus, wer mir etwas besser erklären konnte. Was wurde teilweise gejubelt, wenn ich es endlich verstand! Und so trugen sie viel dazu bei, dass ich mein Spanisch sehr verbessern konnte und kleine Gespräche immer mehr möglich waren.
Bis zum Ende hatte ich immer wieder Probleme mit meiner Rolle als herausgehobene Europäerin. Ich sollte am besten gar nicht putzen, meinen Teller nicht tragen. Überhaupt wurde ich bei Veranstaltungen fast immer extra begrüßt und ausgefragt, woher ich kommen und was ich in Bolivien machen würde. Manchmal konnte ich die Hilfe und das Interesse dankend annehmen und war froh über so viel Freundlichkeit. Manchmal hätte ich gerne deutlicher sagen wollen, dass ich aus keinem „besseren“ Land komme, dass ich doch hier der Gast wäre.
Ich habe in diesen zwei Monaten zwei großartige Projekte besuchen dürfen, die es beide schaffen, dass Menschen unabhängig von ihrer Herkunft ihren eigenen Weg gehen können – davon müsste es so viel mehr geben. Dankbar für all die Eindrücke, die ich als bloße Touristin niemals hätte sammeln können, beende ich nun meine Berichte und sage adiós! Eure Jule