Vom Abschiednehmen und Kennenlernen
Ein liebes Hallo aus dem verrückten La Paz!
Ich bin nun seit dem 13.10. bei Norah und ihrer Familie. In dieser Zeit ist viel passiert, daher werde ich versuchen, ein Erlebnis nach dem anderen zu berichten. Entschuldigt also eine mögliche Berichtflut, aber es sind viele schöne Dinge geschehen, die hier ihren Platz finden sollten.
Am Freitag vor meiner Abreise im Hogar San Francisco schnappte mich Hermana Mici und nahm mich gegen abend mit, ein paar Mädchen vom Ballett abzuholen. Ich weiss gar nicht mehr, wie es dazu kam, auf jeden Fall hatte ich meine gute Kamera dabei, was sich als Goldfang herausstellte. Denn Hermana Micis Plan war, mir quasi zum Abschied noch einmal viele der bedeutenden Plätze in Cochabamba zu zeigen. Gemeinsam mit den Chicas fuhren wir von einem Ort zum anderen und machten überall Fotos. Am besten gefiel mir dabei der plaza de santa teresa. Überall hingen bunte Girlanden, der gesamte Platz war in warmes Laternenlicht getaucht. Es ertönte Musik und eine Gruppe von jungen Menschen tanzte vor einer kleinen Bar traditionelle Tänze. Was für eine wunderschöne Abendstimmung! Glücklich kehrten wir schon recht spät wieder ins Heim zurück. Da nahm plötzlich Hermana Mici meine Hand und sagte mir, ich solle meine Augen schliessen. Sie führte mich ins erste Haus, alles war dunkel. Da ging das Licht an und ich erblickte alle Mädchen in bunten Kostümen, überall hingen Girlanden, Luftballons und ein riesengrosser Schriftbanner mit dem Text “Muchas Gracias Jule.” Ich, absolut sprachlos, wurde zu einem hergerichteten Sessel in der Mitte des Raumes geführt und sollte hier Platz nehmen. Hermana Mici begann eine kleine Ansprache und erklärte, dass die Mädchen diesen Abend als Dankeschön vorbereiteten und nun viele verschiedene traditionelle Tänze folgen würden. Ich konnte mich gerade noch zusammenreissen, aber als dann die ersten Chicas loslegten, kullerten die Tränen nur so herunter. Es dauerte wirklich lange, bis ich mich etwas zusammenreissen konnte, so gerührt und ergriffen war ich von dieser Mühe und Liebe, die hinter dem Abend steckte. Nach jedem Tanz folgte eine kleine Fotosession mit allen und ich konnte nichts anderes tun, als alle immer wieder zu umarmen und mich zu bedanken. Waren die Tänze und Kostüme schon fantastisch, folgte danach eine Dankesrede der Nonnen mit einem anschliessenden Lied von allen für mich. Und dann kamen auch noch Geschenke und selbstgemalte Bilder. Wo hin mit so viel Herz? Ich war so glücklich, dass ich nachmittags bereits für alle Eis besorgt hatte und ich dieses als Dankeschön für den Abend und überhaupt für diese prägende, intensive Zeit im Heim verteilen konnte. Es folgte also ein wunderbares Eisessen, wobei ich irgendwann entdeckte, das ein Mädchen weinend in der Ecke stand. Das war ein sehr trauriger, ergreifender Moment für mich, aber das Eis und eine lange, lange Umarmung konnten sie etwas trösten. Und dann folgte die eigentliche Feierei. Es wurde bolivische Musik angestellt und die Mädchen begannen, mir viele verschiedene Tänze beizubringen. Wir hatten einen grossen Spass und tanzten bis ein Uhr nachts. Hermana Mici sass mittendrin mit einem Zylinderhut auf ihrer Nonnenkleidung, diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen. Am nächsten Tag, nach ca. 4 Stunden Schlaf, ging es dann tatsächlich los zum Flughafen. Viele Mädchen standen extra früher auf, um mir nun wirklich auf Wiedersehen zu sagen. Einige Blicke blieben mir dabei noch lange im Gedächtnis und stimmten mich den Tag über immer wieder sehr traurig. Mich begleiteten lieberweise aber Rosalina und Aydee, die mir besonders ans Herz gewachsen ist und zu einer wirklichen Freundin wurde. Am Flughafen angekommen, realisierte ich so langsam, dass die Zeit hier nun wirklich vorbei sein sollte. Nach vielen Umarmungen und der für mich so wertvollen Aussage, dass ich stets wiederkommen kann, ging ich alleine weiter. Und als ich dann in das Flugzeug stieg, erblickte ich die drei winkend vom Aussichtsturm, hatten sie die ganze Zeit gewartet, bis ich abfliegen würde. Ich wurde also wirklich bis zum Ende begleitet, geht es noch schöner? Voller Dankbarkeit und einer grossen Demut ging es also los nach La Paz!
Schon am Flughafen war der Temperaturunterschied spürbar. Ich wurde wieder von Norah und Wara abgeholt und schwupps ging es ins Senda Nueva und kurz darauf nach Hause. Dieses Mal ereilten mich ein Glück keine Kopfschmerzen, aber müde war ich ohne Ende. Mir war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht bewusst, dass mir noch ein sehr langer Tag bevorstehen würde. Denn am Samstag war in La Paz das Fest der Kulturen. Hier tanzten auch einige Mädchen und Jungen aus dem Senda mit, weswegen wir natürlich nachmittags in die Stadt loszogen. Die Strassen waren abgesperrt und alles war geschmückt. Eine Gruppe nach der anderen zog bis tief in die Nacht tanzend an den Menschen vorbei, begleitet von Musik und lautem Applaus. Das war vielleicht ein Fest! Ich muss schon sagen, dass die Bolivianer wissen, wie man feiert. Die glitzernden Kostüme, Konfetti und das Feuerwerk waren die Krönung des Festumzugs. Ich war jedoch mittlerweile fast erfroren und so unfassbar müde, dass Norah gegen Mitternacht dann endlich mit mir nach Hause fuhr – was für ein erster, bunter Tag in dieser Stadt! Gleich am Sonntag zogen einige Jungen und Mädchen mit mir los, die “Mondlandschaft” valle de la luna zu besuchen. Die Bergkrater waren sehr beeindruckend und es schien endlich die Sonne, die uns wärmend begleitete. Für mich sehr erleichternd war, dass Fabricio, der im Senda Englischunterricht gibt, mit dabei war und wir uns lange unterhielten. Das erste Mal seit knapp zwei Monaten ein richtiges Gespräch führen, ich kann gar nicht sagen, wie glücklich mich dies machte. Nachmittags kehrten wir zurück in die Organisation und kochten gemeinsam. Danach wurde viel gequatscht und so richtig entspannt. Ich hatte das Gefühl, in einer neuen Freundesgruppe anzukommen, wie wertvoll. In den folgenden Tagen lernte ich nach und nach viele der jungen Erwachsenen kennen und übersetzte immer wieder weiter die neuen Weihnachtskarten. Ein Highlight unter der Woche war der Montag, an dem ich mit Fabricio zum Hexenmarkt loszog. Ein bunter Stand voller Alpakakleidung, Schmuck und bunten Täschen nach dem anderen. Der arme Fabricio wusste wohl nicht, worauf er sich da einliess. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich zuerst gucken sollte, also gingen wir erstmal ins Coca Museum, wo es tatsächlich eine deutsche Übersetzung gab. Wir beide, nicht so sehr begeistert, kehrten anschliessend in die Strassen zurück, wobei sich der Himmel bereits gefährlich dunkel verfärbte. Und als ich dann endlich einen Shop auswähtle, begann es ganz furchtbar doll an zu regnen. Im Laden hatte ich dann ja etwas Zeit, mich durch die wunderschönen Pullover und Jacken zu probieren. Ich glaube, die umstehenden Menschen hatten schon etwas Mitleid mit meinem Begleiter, der stets geduldig meine Entscheidungsprozesse begleitete. Am Ende kaufte ich dann tatsächlich eine gemütliche und vor allem warme Jacke und wir zogen lachend in den Regen hinaus. Als Dankeschön durfte ich ihm wenigstens Kekse kaufen und schliesslich kehrten wir völlig durchnässt zurück in Norahs Haus. Dort gab es heissen Tee und warme Decken.
Ich überspringe ein paar gemütliche Tage bei Norah. Mit ihr und der Familie verstehe ich mich sehr gut, so dass ich mich hier richtig heimisch fühle. Wir haben viel zu lachen, wenn eine von uns lustige Versprecher in der anderen Sprache macht. Sie verwechselte letztens Taufe mit Teufel und ich war kurz ganz verwirrt. Ich wiederum gab anstatt “Steckbrief” einen Steckbrief im Sinne von, ich werde von der Polizei gesucht, an, weswegen ich bestimmt eine Stunde immer wieder laut lachen musste, upps. Am Freitag zog ich ein weiteres Mal mit Fabricio los in eine der ältesten Strassen von La Paz. Dort reihten sich Museen an Museen, wobei wir schliesslich in eines über die Musikgeschichte des Landes einkehrten. Das war ein Spass. Wir konnten viele alte Instrumente ausprobieren und entflohen so dem Regen, der sich draussen mal wieder breit machte. Abends nahmen mich schliesslich Karina und Senora Norberta mit zurück zu diesem Plätzchen. Zuerst kehrten wir in eine urige, super gemütliche Kneipe ein und ich trank eine heisse Schokolade, da es draussen mittlerweile eisig kalt war und es ohne Ende gewitterte und regnete. Anschliessend gingen wir in eine Cocktailbar, in der Freunde von Karina Salsamusik spielten und uns zu Beginn als ihre Begleitung vorstellten. Erst spät abends kamen wir bei Norah an. Schnell noch die nasse Kleidung aufhängen, ging es auch schon ins Bett, den am nächsten Tag stand der grosse Ausflug zum Lago Titicaca an. Wir standen um 04:30 Uhr auf und holten bereits eine Stunde später die Leute vom Senda ab, mit denen es dann gemeinsam zum Busbahnhof ging. Nach einer langen, schlafreichen Fahrt kamen wir an einem Hafen an, wobei wir kurz darauf mit dem Boot übersetzten und in den nächsten Bus stiegen. Nach ca. drei Stunden waren wir dann endlich in Copacabana und alle hatten einen Bärenhunger. Wir kehrten in eine Halle ein, wo es Tee, heisse Schokolade und Teigtaschen zum Essen gab. Etwas gestärkt, besichtigten wir erst die grosse Kirche, in der kurz vorher geheiratet wurde. Überall lagen Blumen und es ertönte Musik. Norah erzählte mir, nachdem wir von einem lauten Feuerwerk erschreckt wurden, dass man hier sein Auto taufen könne – vom Pfarrer mit Sekt und Böllern, schon ein bisschen witzig. Anschliessend hiess es nun, den kleinen Berg zu erklimmen. Eine Stufe nach der anderen kamen wir zunächst an einer grünen Wiese an, von der man einen fantastischen Blick auf die Weite des Sees hatte. Wenige Wolken hingen über den Felsen, es sah aus wie ein grosses, weites Meer, das still vor sich hinplätscherte. Weiter ging es nun, die letzten Stufen bis nach ganz oben zu nehmen. Es wurden viele Fotos gemacht und ich suchte mir für eine Weile ein Plätzchen an der Klippe, um einfach nur auf das Wasser zu schauen, was eine beruhigende Wirkung hatte. Nach einer kleinen Trinkpause kehrten wir zum Mittagessen in ein Restaurant am Strand ein, wo es zum Glück Nudeln für Vegetarier gab. Schon verrückt: es gab Salat und Brot sowie eine Suppe als Vorspeise, anschliessend die Hauptmahlzeit und schliesslich Kuchen mit Limonade für umgerechnet vier Euro! Nach der Pause kauften einige von uns ein paar Andenken und schon ging es heimwärts. Im Bus war es still, alle schliefen und wachten erst wieder richtig in La Paz auf. Auf diesen tollen Ausflug folgte gestern nun ein weiterer nach Chinchaya, ein ländlicher Ort etwas hinter La Paz. Dort besitzt das Senda Nueva ein kleines Haus mitten in den Bergen, umgeben von einem kleinen Fluss, wirklich sehr idyllisch. Wir spielten Volleyball, Fussball und das Highlight für mich war eine persönliche Tanzstunde von einem Jungen. Er zeigte mir traditionelle Tanzschritte, wobei ich das erste Mal wirklich merkte, wie unglaublich anstrengend das ist, wow! Aber ich glaube, ich habe mich ganz gut geschlagen, jedenfalls sagte mir Norah, dass ich ein tolles Rhythmusgefühl hätte, juhu. Nachmittags wurde der Ausflug mit weiteren Spielen abgeschlossen, die sehr nass ausfielen. Am Ende gab es eine Art Taufe für alle Neuen, die zuerst von den anderen angemalt wurden und es schliesslich Süsses gab sowie einen eigenen Spitznamen, der auf den Arm geschrieben wurde. Ich bin nun “Julestar”, yeah. Wir fuhren mit einem Transporter und einem Minibus zurück und nach einer heissen Schokolade im Senda und einem Film über die vergangene Sendita Cultural kamen wir spät abends wieder nach Hause. Zum Glück konnten wir heute ausschlafen, wobei ich etwas früher aufstand und für alle Pfannkuchen zum Frühstück bereitete. Das war ein Fest! Mit leckerem Obst, Honig, Käse und Avocado starteten wir in den Tag. Heute Abend darf ich Norah zu ihrem Seminar in der Uni begleiteten und am Wochenende steht noch eine weitere Pizzasession sowie eine Tanzstunde von mir für die jungen Leute an. Ich bin gespannt, denn nun bleibt mir noch genau eine Woche im bunten Bolivien! Abschliessend lässt sich noch sagen, dass ich mich im Senda Nueva sehr wohl fühle. Die jungen Leute sind grossartig, offen und interessiert, weswegen mir ein Einstieg für diese vergleichsweise kurze Zeit sehr erleichtert wurde. Furchtbar lieb ist auch, dass mir hier stets ein vegetarisches Essen gekocht wird, wofür ich so dankbar bin. Zu Beginn der Reise habe ich versucht, das Fleisch mitzuessen, aber es klappt einfach nicht. Es gibt eine schöne, aber auch stressige Tradition hier zum gemeinsamen Essen: ist jemand fertig, bedankt sich die Person, die aufstehen möchte, bei jedem und jeder einzelnen. Das ist gar nicht so einfach für mich, sind die Namen teilweise echt schwer zu merken. Deswegen bleibe ich meistens einfach bis zum Ende sitzen. Problem gelöst!
Dies erstmal als kleiner Einblick in meinen zweiten Teil der Reise. Fotos und alles Weitere folgen natürlich, aber nun gilt es auch erstmal, die restliche Zeit zu geniessen. Ich sende viele Grüsse nach Deutschland, auf bald! Eure Jule