Ein erster Eindruck aus Cochabamba
Liebe Familie,
Liebe FreundInnen!
Mittlerweile bin ich schon über einem Monat im schönen Cochabamba, Bolivien, und seit drei Wochen in dem Mädchenheim „Hogar San Francisco“. Am Sonntag den 03. November geschah meine spontane Übersiedlung aus der gemütlichen und behüteten Behausung von Mónica und Christian in das große Mädchenheim, wo etwa 50 Chicas und 3 Hermanas (Nonnen) auf mich warteten. Eigentlich war meine Ankunft für den Tag darauf vorhergesehen, jedoch erreichte uns am Abend jenes Sonntags der Anruf der Hermana Rosa, die bloqueos (Blockaden) seien jetzt in diesem Moment rund um das Heim offen und die Straßen befahrbar. Somit konnten mich Mónica und Christian mit dem Auto hinbringen und ich ersparte mir eine wilde Motorradfahrt mit meinem riesigen Rucksack, der so schwer ist wie mein eigenes Gewicht.
Ich packte also schnell meine Sachen zu Ende und wir brachen auf, auf die Straßen, die allerdings nur halbwegs befahrbar waren... Eine abenteuerliche Überfahrt im Dunkeln mit vielen vielen Umwegen. Emotional war ich noch nicht bereit für diese Übersiedlung, doch weiß ich nicht, ob ich dazu bereit gewesen wäre, wäre ich nicht überrumpelt worden. Liebevoll überrumpelt wurde ich dann bei meiner Ankunft vor den Toren des Heims von vielen kleinen und großen Mädchen, die mich in den Arm nahmen, sich an mich schmiegten und meine Hände halten wollten. Es hingen so viele kleine Mädchen an mir, ich musste aufpassen, dass wir durch die Tür passten und ich niemandem auf die Füße trat. Das bunte Plakat auf dem „BIENVENIDA KAYA“ mit Blümchen verziert drauf stand, fand sofort einen Platz an der Wand meines neuen Zimmers für die nächsten zweieinhalb Monate. Die drei Hermanas leisteten mir beim Abendessen Gesellschaft und versuchten mir alles Mögliche zu erzählen und zu erklären.
Ich meinerseits war überfordert mit meinem nur sehr spärlichen Spanisch und konnte daher auch kaum Fragen stellen, die mir aber wahrscheinlich zu Hunderten im Gesicht geschrieben standen. Von kleinen Mädchenhänden wurde ich wieder in mein Zimmer begleitet, wo ich etwas Ruhe und Zeit, um mich einzurichten, fand. Am nächsten Morgen begann mein Tag mit dem Klingeln des Weckers um 5:45 Uhr. Ich nahm es mir heraus, bis 6:30 Uhr die Augen zu schließen und hörte dem immer lauter werdenden Lärm im Haus zu.
Bis zum Mittag war ich orientierungslos und überfordert. Was genau meine Aufgaben sein sollten, war mir nicht wirklich klar. Irgendeine kleine klebrige Hand holte mich aber immer wieder aus meiner Hilflosigkeit heraus und verwickelte mich in Spiele im Garten oder noch zu machenden Hausaufgaben. Bald saß ich nach dem Mittagessen im Garten unter einem Baum bei gefühlten 30 Grad, mit 5 kleinen Chicas um mich herum. Ein paar machten mir eine Frisur, die anderen saßen auf/neben mir. Diese liebliche Zuneigung der Chicas begleitet mich die ganzen Tage über und holt mich immer wieder aus der Hilflosigkeit und dem Heimweh heraus.
Jeden Tag gegen 18:15 Uhr versammeln sich die Chicas in der Kapelle, ein kleiner Raum des Hauses, der so aussieht wie eine Kirche, mit einem Altar und Gebetsbänken. Zu Anfang fiel es mir schwer so lange auf den harten Holzbänken zu sitzen und immer und immer wieder die gleichen Phrasen zu wiederholen. Mit der Zeit wurde es aber zur Gewohnheit und es ist schön, dass sich zu einem Zeitpunkt am Tag (fast) alle Bewohnerinnen des Hauses
zusammenfinden. Hin und wieder werde ich Abends dazu aufgefordert, ein Geschichtchen vorzulesen. Diese Momente genieße ich sehr. Kleine sowie große Mädchen hören mir gespannt zu, obwohl sie die Geschichten wahrscheinlich schon in- und auswendig kennen.
Ein ebenso schöner Abschluss für den Tag ist, wenn wir nach dem Abendessen im ersten Haus Quatsch machen, tanzen und nochmal die ganze Energie rauslassen, so dass man auch wirklich müde ins Bett fallen kann. In dieser zusammengestellten, wirklich sehr großen Familie leben Mädchen von 2-24 Jahren. Die jeweils älteren Mädchen haben das Sagen und können auch sehr streng werden, wenn eine Chica mal nicht gehorcht. Manche kleinen Chicas nennen eine etwa 20-Jährige „Mama Lilly“. Hier in diesem Haus gibt es viele Mamas. Bei nur drei Hermanas und über 60 Chicas ist es geradezu notwendig, dass die Älteren eine Erziehungsrolle einnehmen und der Tag perfekt durchgeplant wird. Durch das fest bestehende Muster, wer was putzt und kocht, ist es schwer für mich, mich da einzubringen, ohne dass mir jemand den Besen aus der Hand nimmt.
In den letzten Tagen hat sich die aktuelle Situation in Cochabamba auf den Straßen etwa beruhigt, so dass mancher Unterricht wieder stattfinden kann. Wenn ich ein paar Chicas zum Ballet begleite, habe ich die Chance mehr zu sehen von der Außenwelt. Die Fahrt mit dem Bus „H“ gefällt mir sehr. Auch wenn es einer der größten Busse oder „Truffis“ ist die auf der Straße fahren, ist er immer noch sehr klein (verglichen mit denen in DE). Dazu sind sie ganz bunt von innen und außen und es läuft laute Musik. Es kann auch sehr kuschelig werden, wenn der Bus voll wird.
Während der Balletstunden schaue ich den TänzerInnen zu und trauere dem Tanzen nach. Ein Eis für die Chicas und mich vor oder nach dem Unterricht kühlt uns in der Hitze etwas ab. Auf dem Nachhauseweg kündigt der vom Sonnenuntergang rosarot getränkte Himmel den Abend an.
So weit, so schön!
Viele liebe Grüße von ganz weit weg! Kaya